Eindrücke vom Europastraßen-Fest am 3.5.2019
Gemeinsam feiern, musizieren, tanzen und miteinander reden statt übereinander: das „Willkommensfest“ in der AU Europastraße wird sowohl den OrganisatorInnen als auch den vielen BesucherInnen sicherlich in schöner Erinnerung bleiben.
13:00 Uhr: „Was macht Ihr denn da?“ – „Na, heute ist hier eine Party“. Während Dieter, Mustafa und Jörg (*) dabei sind, Biergarnituren aus einem Kleinbus zu wuchten und aufzubauen schlendert Samuel über den Hof der Anschlußunterkunft Europastraße. Der junge Azubi mit gambischen Wurzeln kommt gerade aus der Berufsschule, von dem „Willkommensfest“ hat er vorher nichts mitbekommen: „Um 16 Uhr geht es schon los? Dann hole ich nachher meine Instrumente und wir trommeln zusammen!“
14:00 Uhr: Aus einem der Zimmer im Erdgeschoss duftet es bereits reichlich lecker – auf dem Herd köchelt seit geraumer Zeit in großen Töpfen das Essen, das die Bewohner für das Willkommensfest vorbereiten. Nebenan dröhnt ein Druckluftkompressor, denn hunderte Luftballons, die nachher an den Geländern und quer über den Hof aufgehängt werden sollen, wollen auch erstmal aufgeblasen werden. Die Beteiligten an der Aktion haben sichtlich ihren Spaß daran, ihre Unterkunft für einen Tag „Bunt“ zu machen. Ingrid und Samir basteln derweil an einer Planenkonstruktion über den Tischen für das Büffet („Falls es doch noch regnet, bei Euch in Deutschland regnet es ja über 4 Monate im Jahr…“).
16:00 Uhr: Die letzten Getränkekisten werden noch unter der improvisierten Theke verstaut, da trudeln schon die ersten BesucherInnen ein – darunter auch etliche interessierte BürgerInnen, die aus der Presse von dem Fest erfahren haben und sonst nicht viel mit Geflüchteten zu tun haben: „Ich wollte nur mal kucken – die Unterkunft sieht doch von außen total schick aus, das Gebäude habe ich mir viel schlimmer vorgestellt“ – „Ja, aber wir wohnen hier zu zweit in einem Zimmer mit 12 Quadratmetern“. Nachdenkliches Schweigen. „Aber wir freuen uns wirklich sehr, dass Sie uns heute hier besuchen“, schiebt Amed beruhigend hinterher und bietet Kuchen an.
17:00 Uhr: „Mach mal die Musikbox leiser!“. Samuel ist zurück und im Handumdrehen ist eine improvisierte Trommelsession in Gange. Schnell stellt sich heraus, dass sich westafrikanische, arabische und europäisch-lateinamerikanische Rhythmen durchaus zu einer tanzbaren Melange kombinieren lassen – was auch manche der Musiker selbst erstaunt: im Alltag haben sie, die teilweise sehr unterschiedliche kulturelle Hintergründe haben, oft gar nicht so viel miteinander zu tun, auch wenn sie in der Europastraße Tür an Tür wohnen.
18:00 Uhr: Während das von Bewohnern und Ehrenamtlichen bestückte Büffet geplündert wird und einige BesucherInnen schon mal einen Crashkurs in Sachen „orientalischer Rundtanz“ bekommen, laufen an etlichen der Tische interessante Gespräche – während manche BewohnerInnen ihre ehemaligen deutschen „Paten“ wiedergetroffen haben, von denen sie in ihren vorherigen Unterkünften begleitet wurden, geben einige der OrganisatorInnen aus dem Netzwerk Europastraße der Lokalpresse ein Interview. Auch von der Refugee Law Clinic sind Menschen anwesend, die sich vor Ort ein Bild über die Situation der Bewohner machen wollen, und sogar aus der benachbarten Obdachlosenunterkunft schauen noch ein paar Menschen vorbei und werden willkommen geheißen.
„Für uns ist das heute ja nicht nur eine reine ‚Party‘ – Sinn der Veranstaltung ist es natürlich auch, einen Raum für solche positiven Begegnungen zu schaffen, Ängste und Vorurteile gegenüber den Menschen aus der AU Europastraße abzubauen und ein deutliches Zeichen in der von gewissen Leuten auch sehr diskriminierend geführten Diskussion rund um diese spezielle Unterkunft und ihre Bewohner zu setzen – und das geht nun mal am besten, wenn man miteinander spricht, statt nur übereinander zu reden“, ist Dieter vom Netzwerk Europastraße überzeugt. Das Netzwerk Europastraße ist ein Verbund von mehreren zivilgesellschaftlichen Organisationen in Tübingen, die aktiv die Bewohner und die ehrenamtliche Arbeit in der Anschlussunterkunft unterstützen: „Deshalb ist es gut, dass heute auch VertreterInnen des Gemeinderats das Fest besuchen – zumindest von den Linken und von der FDP habe ich schon welche gesehen. Die brisanten Themen, nämlich Palmers ‚Liste der Auffälligen‘ und die Überlegungen der Stadtverwaltung hier in der Europastraße ein abgeriegeltes Sonderlager einzurichten, sind ja leider nach wie vor noch nicht vom Tisch“.
19:00 Uhr: „Bevor Du gehst: hast Du schon unterschrieben?“ – auf einem der Tische liegt ein großes Tuch aus, auf dem sich alle FestbesucherInnen verewigen dürfen und das später einmal den neu mit der Stadtverwaltung ausgehandelten Sozialraum in der AU schmücken soll – den bisherigen Gemeinschaftsraum mussten sich Bewohner und Ehrenamtliche mit den Männern einer privaten Security-Firma teilen, die die Stadtverwaltung seit 2017 in der Europastraße einsetzt. „Für Gespräche und Beratungssituationen in geschütztem Rahmen war diese Situation seit jeher ein No-Go, und sowohl die Bewohner als auch wir vom AK Europastraße sind erstmal froh, dass nun zumindest eine vorübergehende Lösung für diese Problem gefunden wurde“, erklärt Sandra, die schon seit 1,5 Jahren in der Europastraße ehrenamtlich tätig ist.
„An wen muss ich mich wenden, wenn ich mich hier in der AU ehrenamtlich engagieren will?“ – während Dagmar, die gerade in Tübingen ein Sozialpraktikum im Rahmen ihres Studiums absolviert, schon genau weiß, dass sie wieder in die Europastraße kommen wird um künftig die dort untergebrachten Geflüchteten zu unterstützen, ist Michael noch unsicher: „Eigentlich habe ich berufsbedingt gar keine Zeit, um mich in der Europastraße so richtig einzubringen. Aber es war trotzdem toll, heute zu erleben, dass hier ganz ’normale‘ Menschen leben, und nicht lauter Kriminelle und ‚Auffällige‘ untergebracht sind wie von manchen behauptet wird.“
20:00 Uhr: Langsam neigt sich das „Willkommensfest“ seinem Ende zu. Die spontanen Rap-Einlagen einiger junger gambischer Geflüchteter zu afrikanischen HipHop-Beats werden von einigen der anwesenden älteren Semester nur halb belustigt kommentiert: „Der einzige Vorteil der isolierten Lage dieser Unterkunft ist ja, dass die Musik um diese Uhrzeit hier noch niemanden stört…“. Die Züge, die im Viertelstunden-Takt hinter der AU vorbeibrettern, und die vierspurige Bundesstraße vor den beiden Gebäuden sind in der Tat deutlich lauter, und ein direktes nachbarschaftliches Umfeld gibt es – zum Leidwesen der in der AU untergebrachten Menschen – ebenfalls nicht…
In Rekordzeit wird zum Schluß alles gemeinsam abgebaut und aufgeräumt. „Vielen Dank, dass Ihr heute zu uns gekommen seid!“ – „Danke, dass wir heute hier sein durften!“. Wir sehen uns…
(*) alle Namen geändert