Der folgende Offene Brief wurde von uns am 14.12.2018 an Mitglieder der SPD-Parteibasis und an Funktions- und Mandatsträger der SPD in der Region verschickt. Angehängt war eine ausführliche Argumentation zu einzelnen Unterpunkten in den Sondierungsergebnissen (hier als PDF).
Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Genossinnen und Genossen von der SPD,
im Bündnis Bleiberecht Tübingen engagieren wir uns seit geraumer Zeit für die Rechte und Chancen geflüchteter Menschen bei uns in der Region. Wir wenden uns heute mit diesem offenen Schreiben direkt an Sie als VertreterInnen der regionalen SPD-Parteibasis, sowie als Mandats- und FunktionsträgerInnen der SPD.
Die Spitzenvertreter Ihrer Partei und der CDU/CSU haben am 12.01.2018 das Ergebnis der Sondierungsgespräche zur Bildung einer „Großen Koalition“ veröffentlicht.
Wir sind entsetzt darüber, dass unter dem Thema „Migration und Integration“ nahezu ausschließlich die flüchtlings- und integrationsfeindlichen Positionen der CSU („Obergrenze“, Sammellager usw.) Eingang in diese Sondierungsergebnisse gefunden haben.
Eine „sozialdemokratische“ Handschrift ist in den dort getroffenen Vereinbarungen für uns nicht erkennbar. Die angestrebten Vereinbarungen zur Migrationspolitik einer künftigen „Großen Koalition“ unter Beteiligung der SPD setzen allein auf weitere Abschottung, Abschreckung und Abschiebung, unter Federführung der Hardliner von CDU/CSU. Auf der Strecke bleiben Humanität und Menschenrechte.
Wir begrüßen es, dass zumindest in der SPD im Moment noch eine parteiinterne Diskussion der vorliegenden Sondierungsergebnisse unter Einbeziehung der Basis möglich zu sein scheint.
Wir möchte Sie ausdrücklich dazu ermutigen, beim Thema „Migration und Integration“ den Aufstand zu wagen: für eine menschenwürdige und solidarische Migrations- und Integrationspolitik!
Die Zeit dafür ist allerdings knapp genug bemessen und wir möchten sie bitten, auf allen Ebenen der SPD jetzt Ihre Einflußmöglichkeiten wahrzunehmen.
Im Anhang senden wir Ihnen deshalb ausführliche Argumente zu den entsprechenden Abschnitten der Sondierungsergebnisse, denn wir wollen uns bei diesem komplexen Thema nicht nur auf Schlagworte beschränken.
Dennoch seien einige Punkte hier kurz zusammengefasst:
Es darf keine weiteren Einschränkungen beim Flüchtlingsschutz geben! Auch die Europäische Menschenrechtskonvention und die sich daraus ergebenden Bleibeperspektiven müssen weiter vollumfänglich berücksichtigt werden!
„Fluchtursachen bekämpfen, nicht die Flüchtlinge“ – und zwar ohne die europäischen Außengrenzen noch weitgehender hochzurüsten und abzuschotten als bisher, und ohne Frontex noch weiter zu einer gesamteuropäischen paramilitärischen Flüchtlingsjägertruppe auszubauen!
Eine „Obergrenze“ für Geflüchtete, die in unserem Land Schutz vor Verfolgung, Krieg und Elend suchen, verstößt grundsätzlich gegen die Menschenrechte und ist nicht hinnehmbar!
Der Familiennachzug für Geflüchtete mit subsidiärem Schutz muss wie versprochen ab 16.03.2018 wieder ermöglicht werden! Der Familiennachzug darf auch mittelfristig nicht abgeschafft oder noch weiter limitiert werden – das Recht auf Einheit der Familie ist ein Kinder- und Menschenrecht, ebenso wie das Recht auf ein Leben in Sicherheit!
Es kann nicht sein, dass Deutschland nun statt des gesetzlich garantierten Familiennachzugs eine „1000-Menschen-pro-Monat“-Lotterie einführt und diese „Quote“ auch noch dazu benutzt wird, aus der Umverteilung geflüchteter Menschen innerhalb der EU insgesamt auszusteigen!
Einerseits von den Geflüchteten verstärkte Integrationsanstrengungen zu fordern und gleichzeitig ihre Aufenthaltsrechte ausdrücklich nicht verfestigen zu wollen geht überhaupt nicht zusammen – das zeigt die Erfahrung aus der Zuwanderung der letzten Jahrzehnte!
Integration kann nur funktionieren, wenn Geflüchtete so schnell wie möglich eine nachhaltige Bleibeperspektive an ihrem neuen Wohnort, zusammen mit der Möglichkeit einer selbstbestimmten Teilhabe am kulturellen und politischen Leben der Gesellschaft bekommen.
Die Vorstellung von zentralen Sammellagern (sgn. „Anker“-Einrichtungen), in denen Asylsuchende künftig über die oft sehr lange Zeitdauer ihres Asylverfahrens konzentriert untergebracht werden sollen, müsste eigentlich auch bei allen SozialdemokratInnen umgehende und nachhaltige Bauchkrämpfe auslösen. Diese Art der Zwangsunterbringung von geflüchteten Menschen ist menschenrechtswidrig und grundsätzlich mit der Menschenwürde nicht vereinbar!
Es darf nicht sein, dass die humanitären Mindeststandards der deutschen Flüchtlingspolitik zukünftig allein durch eine von der Angst vor Macht- und Gesichtsverlust getriebenen bayrischen Regionalpartei bestimmt werden, die sich in ihrer Wahrnehmung von Menschen und Menschenrechten zunehmend an Proto-Faschisten wie Viktor Orban und den nationalistischen Menschenrechtsfeinden von der AfD orientiert!
Wir fordern Sie auf, Ihrer Parteispitze keinen Auftrag zur Bildung einer Regierungskoalition zu erteilen, solange bei oben genannten Punkten nicht massiv und erfolgreich nachverhandelt wird!