Für einen „Sicheren Hafen“ im ganzen Landkreis – Statements und Redebeiträge

Im Folgenden dokumentieren wir die Redebeiträge der Kundgebung „Für einen ‚Sicheren Hafen‘ im ganzen Landkreis Tübingen“; von Seebrücke Tübingen, AK Asyl Südstadt und Bündnis Bleiberecht Tübingen.

Seebrücke Tübingen: „Es sollte nicht unsre Aufgabe zu fordern diese Zustände zu beenden. Diese Zustände dürften überhaupt keine Option sein.“

  • 26. Oktober 2019: bewaffnete libysche Milizen feuern Schüsse auf ein deutsches Rettungsschiff ab.
  • 08. September 2019 Besatzung eines deutschen Rettungsschiffs meldet Suizidversuch eines Minderjährigen nach tagelangem Ausharren auf dem Mittelmeer
  • 12 Juni.2019 : die Crew der SW 3 rettet 53 Menschen aus Seenot. Italien verweigert den Geretteten einen Port of Safety .Die Sea-Watch 3 ist seither beschlagnahmt.
  • 02. September 2018 Ausnahmezustand in Tripolis. Bei Kämpfen zwischen bewaffneten Gruppen in der Hauptstadt Libyens wurden in einer Woche 39 Menschen getötet.
  • 2. September 2015 am frühen Morgen ertrinkt der zweijährige Alan Kurdi vor der türkischen Küste

Dies sind nur ein paar traurige Schlagzeilen in der Geschichte der gescheiterten Flüchtlingspolitik der EU.

Die Taktik ist abschotten, kriminalisieren und wegschauen.

Die Abschottungspolitik zentraleuropäischer Länder wie Deutschland äußert sich schon seit Jahren in unsolidarischem Handeln. Als Italien 2013 nach einem schweren Schiffsunglück vor Lampedusa die Not zum Handeln erkannte und eine staatliche Seenotrettung aufbaute, verweigerte die deutsche Regierung eine solidarische Verteilung der geretteten Menschen.

Die Mission wurde ein Jahr später eingestellt, doch die Leichen im Mittelmeer blieben.

Das Menschen im Mittelmeer ertrinken während Europa zuschaut,
ist ein unmenschlicher Zustand.
Für einige war dieser Zustand so unerträglich, dass sie die Seenotrettung selbst in die Hand nahmen.

Jugendliche gründeten Seenotrettungsorganisationen und stellten ihre eigenen Ziele und Wünsche zurück, weil sich die EU weigerte Lösungen zu finden!

Anstatt sich dafür zu schämen, dass ein paar Jugendliche ihre Aufgaben übernehmen mussten, begannen die Regierungen Europas diese Jugendlichen systematisch zu kriminalisieren.
Seenotrettungsschiffe wurden unter fadenscheinigen Gründen beschlagnahmt und die Besatzungscrews stehen bis heute unter Anklage.

Im gleichen Zuge präsentierte die EU die „Pseydolösung“ – Libysche Küstenwache, welche an ihrer Absurdität und Unmenschlichkeit nicht zu überbieten ist.

Mit der Finanzierung dieser sogenannten Lybischen Küstenwache finanziert die EU Milizen auf Marineschiffen. Faktisch dieselben Milizen, die potenziell als Schlepper fungieren können. Diese Küstenwache ist weder ausgebildet noch nützlich, denn sie ist bei einem Notruf über Funk nicht einmal zu erreichen.
Die EU präsentiert uns diese Misere als Chance und hofft, dass die Bevölkerung ihnen diesen Schwachsinn abkauft.

Die Missachtung von Gesetzen und die einhergehende Willkür durch die europäischen Regierungen ist beängstigend und hat fatale Folgen.
Durch die Finanzierung der lybischen Küstenwache durch die EU mit rund 280 Mio. Euro sollten die Ertrinkenden und Leidenden ins Unsichtbare verlagert werden.

Laut Schätzungen der UNO-Flüchtlingshilfe sind etwa 15.000 Menschen bei der Überfahrt über das Mittelmeer in den letzten fünf Jahren ertrunken oder verschollen davon mehr als 1000 Menschen in diesem Jahr.

Auch die Rückführung von geretteten nach Libyen ist alles andere als eine humanitäre Tat. Libyen ist laut Seerecht kein sicherer Hafen und das hat seine Gründe.
Wie der UNHCR bestätigt, sind die Zustände in den Lagern für Geflüchtete verheerend, da sie nicht ausreichend mit Wasser und Nahrung versorgt werden.
Schwere Menschenrechtsverletzungen wie Sklaverei, körperliche Misshandlungen und Vergewaltigungen stehen in den Haftanstalten auf der Tagesordnung.

Es sollte nicht unsre Aufgabe zu fordern diese Zustände zu beenden.
Diese Zustände dürften überhaupt keine Option sein.

Doch die Abschottung der europäischen Regierungen zeigt, dass wir momentan keine andere Wahl haben als standhaft zu bleiben und gegen diese Politik vorzugehen.

Und es werden immer mehr, die anfangen zu begreifen, dass ein Land sich weder fortschrittlich noch moralisch nennen kann, wenn es Menschen in solchem Elend wissentlich zurücklässt. Die anfangen zu begreifen, dass der einzige Grund warum uns dieses Leid erspart bleibt ein Stück Papier ist, dass sich deutscher Pass nennt.
Es werden immer mehr Menschen die sich solidarisieren, organisieren und zu Bündnissen zusammenschließen.

120 deutsche Landkreise und Städte haben sich bisher zum sicheren Hafen bekannt. Eine davon ist die Stadt Tübingen.
Gemeinsam fordern wir jetzt auch den Kreistag auf, diesen Schritt zu gehen:

Der gesamte Landkreis Tübingen soll dem Bündnis „Städte Sicherer Häfen“ beitreten und zusätzliche Aufnahmeplätze für Einreisende zur Verfügung stellen.

Gemeinsam können wir praktische Lösungen schaffen und damit der menschenverachtenden Politik aktiv entgegentreten.

AK Asyl Südstadt: „Man lässt keine Menschen ertrinken. Punkt.“

Der AK Asyl Südstadt betreut seit 2015 geflüchtete Menschen in der Gemeinschaftsunterkunft in der Wilhelm-Keil-Straße. Viele mussten seither wieder gehen, viele sind geblieben und werden bis heute von AK-Mitgliedern begleitet. Es sind enge Bindungen entstanden, man feiert Geburtstage und Weihnachten zusammen, man hilft weiterhin bei Behörden-Angelegenheiten usw.

Das Vertrauensverhältnis ist über die Jahre gewachsen, und vereinzelt kommt das Gespräch auch mal auf die Flucht. Und dann erfahren wir aus erster Hand, wie es zugeht in den Lagern in Libyen, was beim Durchqueren der Wüste alles Schreckliches passiert ist. Und dann die Überfahrt nach Europa, übers Mittelmeer, im untauglichen Boot. Alle Menschen an Bord haben Todesangst. Sie sehen andere sterben, sie ersticken unter Deck, sie gehen über Bord und ertrinken.

Mehr als 19.000 Menschen sind seit dem Jahr 2014 im Mittelmeer ertrunken. Das hat der Paritätische Gesamtverband vor zwei Tagen zum Internationalen Tag der Menschenrechte, der gestern begangen wurde, mitgeteilt.

Eine unfassbare Zahl.

All diese Menschen könnten noch leben, wenn die Seenotrettung funktionieren würde. Aber das tut sie nicht, wie wir alle wissen. Die EU will das so. Allein aus Deutschland gingen im Jahr 2018 53 Mio. Euro an die libysche Küstenwache, deren Aufgabe es ist, die Flüchtlingsboote abzufangen und nach Libyen zurückzubringen. Was in Libyen passiert, ist vielfach dokumentiert: Die Menschen werden gefoltert, vergewaltigt, misshandelt und versklavt. Wir alle wissen das.

Ich frage mich, wie viele Menschen könnten mit diesem Geld gerettet und versorgt werden?!

In den Diskussionen über die Seenotrettung hört man immer wieder das Argument, dadurch schaffe man Anreize für massenhafte Fluchtmigration. „Wir können doch nicht alle aufnehmen“, sagen die Leute.

Ich finde aber, darum geht es nicht. Die Alternative zur Seenotrettung kann doch nicht sein, dass man die Menschen ertrinken lässt! Da war doch mal was … mit christlich-abendländischen Werten, die hochgehalten werden müssen!

Ich komme zum Schluss mit einem Zitat von Wolfgang Luef von der Süddeutschen Zeitung. Besser kann man die Problematik nicht ausdrücken:

„Es geht nicht um unterschiedliche Auffassungen, wie man mit Migranten- und Flüchtlingsbewegungen umgehen soll.
Es geht nicht darum, dass man „nicht alle aufnehmen kann“.
Es geht schlichtweg um ein Mindestmaß an Zivilisiertheit! Wer gerade dabei ist, zu ertrinken, der ist weder Flüchtling noch Migrant, der ist weder Afrikaner noch Europäer, weder Muslim noch Christ.
Der ist ein Mensch, der gerade dabei ist zu ertrinken. Und man muss alles unternehmen, um ihn zu retten.“

Deshalb wünschen wir uns, dass nach den Städten Rottenburg und Tübingen auch der Landkreis Tübingen ein Zeichen setzt und sich zum „Sicheren Hafen“ erklärt. Ohne Sichere Häfen geht das Sterben im Mittelmeer weiter. Man lässt keine Menschen ertrinken. Punkt.

Bündnis Bleiberecht Tübingen: „Das Konzept der „Sicheren Häfen“ ist ein unglaublich wichtiger und vor allem: jetzt machbarer Schritt.“

„Auch wenn wir jetzt einige Wochen ein paar harte Bilder aushalten müssen, unser Ansatz ist richtig“ – so lapidar begegnete im Jahr 2016 der damalige Bundesinnenminister Thomas de Maiziere der massiven Kritik an dem von ihm mit ausgehandelten Deal der EU mit dem türkischen Diktator Erdogan; einem Deal, der in der Folge maßgeblich zur Verlagerung der Fluchtrouten auf das westliche Mittelmeer beigetragen hat.

Die „Festung Europa“ schottet sich seither immer weiter ab – gegen Menschen, denen die Lebensgrundlagen auch aufgrund der Politik der EU-Mitgliedsstaaten entzogen wurden. Kriege, diktatorische Regime, Ausbeutung von Rohstoffen und Zerstörung der Umwelt, Klimafolgen, Menschenrechtsverletzungen, die Folgen ausbeuterischer Wirtschaftsabkommen zwingen immer mehr Menschen zur Flucht. Noch nie gab es so viele Flüchtlinge auf der Welt wie im Jahr 2019.

Der Umgang der EU mit diesen flüchtenden Menschen auf der Suche nach Schutz und einem Leben in Sicherheit – noch immer fälschlich als „Flüchtlingskrise“ betitelt – hat sich längst als eine ungeheuerliche Krise des humanistischen und humanitären Wertesystems erwiesen, auf das sich die Mitgliedsstaaten der Europäische Union an anderer Stelle – z.B. bei der Durchführung von eigenen Militäreinsätzen in aller Welt – so gerne berufen.

In den vorangegangen Beiträgen haben wir von der schrecklichen und unmenschlichen Situation flüchtender Menschen in Lybien gehört, und von dem tausendfachen Sterben auf dem Mittelmeer. Und was erwartet diejenigen, die es schaffen, bei diesem Versuch das Meer zu überqueren wenigstens das nackte Überleben zu retten?

Selbst wer es irgendwie trotzdem bis nach Europa schafft, hat noch lange keinen Anspruch auf ein Überleben in Sicherheit und Menschenwürde: weil es die EU noch immer nicht auf die Reihe bekommt, sich auf einen verbindlichen und menschenrechtskonformen europaweiten Verteilungsmechanismus zu einigen.

Binnenstaaten wie Deutschland agieren noch immer nach der Devise: „Nicht unser Problem“. So sitzen in den völlig überfüllten Camps auf den griechischen Mittelmeerinseln weiterhin zigtausende Flüchtlinge fest – teils jahrelang und unter völlig inakzeptablen Bedingungen.

Auch vor den EU-Außengrenzen auf dem Balkan sind in diesem Winter wieder flüchtenden Menschen vom Tod durch Erfrieren, Verhungern und Verdursten bedroht, weil es in diesen ärmsten Ländern des europäischen Kontinents weder die finanziellen noch die logistischen Ressourcen gibt um die dort teilweise unter freiem Himmel campierenden Flüchtlinge angemessen zu versorgen.

Welche menschenverachtenden Ausmaße die EU-Abschottungspolitik inzwischen angenommen hat kann man gerade auch in Bosnien den unzähligen Berichten von Flüchtenden entnehmen, denen beim Versuch, die dortige EU-Grenze zu überqueren, von Polizeibeamten des EU-Mitgliedslandes Kroatien nicht mehr nur systematisch Schuhe, Geld, Wertsachen und Identitätsdokumente abgenommen werden bevor man sie, mißhandelt und barfuß, völkerrechtswidrig nach Bosnien zurück prügelt – nein, mittlerweile häufen sich auch Berichte von Menschen, die von diesem verzweifelten Versuch, ein vermeintlich sicheres EU-Land zu erreichen, mit teils schweren Schußverletzungen zurückkehren.

Schüsse auf Flüchtlinge aus europäischen Polizeiwaffen, um die Grenzen um jeden Preis dicht zu machen: was vor ein paar Jahren als unsägliche Debatte einiger politischer Profilneurotiker in den Kommentarspalten deutscher Zeitungen die Runde machte, ist längst ein tödlich realer Bestandteil des Alptraums geworden, dem flüchtende Menschen auf dem gesamten qualvollen und lebensgefährlichen Weg, von den Ländern aus denen sie fliehen müssen bis direkt vor unsere Haustür, ausgesetzt sind.

„Auch wenn wir jetzt einige Wochen ein paar harte Bilder aushalten müssen…“

Aus den „einigen Wochen“ des Herrn de Maiziere sind längst Jahre geworden, und aus ein „paar harten Bildern“, die wir seiner Ansicht nach hätten aushalten müssen, ist mittlerweile eine nicht enden wollende Bilderflut von menschlichem Leid und menschlicher Grausamkeit geworden.

Wir alle, die wir heute hier stehen, haben uns dazu entschlossen, dieses Leid und diese Grausamkeit nicht länger tatenlos hinzunehmen!

Wenn es in diesem ganzen unmenschlichen Irrsinn, der da auf nationalstaatlicher und europäischer Ebene betrieben wird, überhaupt noch Zeichen der Hoffnung gibt, dann gehören dazu auf jeden Fall menschenrechtliche Initiativen auf der kommunalen Ebene, aus einem „Europa von Unten“ heraus, wie es auch das Bündnis Städte Sicherer Häfen darstellt.

Wir sind Realisten genug um zu wissen, dass mit der Aufnahme von aus Seenot geretteten Flüchtenden nicht alle Aspekte der menschlichen Katastrophe, die sich tagtäglich direkt vor den Toren der Festung Europa abspielt, sofort gelöst werden können. Aber wir sind der Überzeugung, dass es unsere gemeinsame menschliche Verantwortung ist, zu tun was immer wir können um die tödlichen Folgen dieser Katastrophe für so viele der Betroffenen wie möglich abzuwenden.

Das Konzept der „Sicheren Häfen“ ist dabei ein unglaublich wichtiger und vor allem: jetzt machbarer Schritt.

Dass sich nach Rottenburg nun auch die Stadt Tübingen und (seit letzter Woche) auch unsere Nachbarkreisstadt Reutlingen diesem Bündnis angeschlossen haben ist deshalb sehr begrüßenswert und ein überfälliges Zeichen aus unserer Region, für die Menschlichkeit und gegen das fortgesetzte Sterbenlassen auf den Fluchtrouten nach Europa.

Mit dem Zeichensetzen alleine ist es allerdings nicht getan. Der ganze vorhandene „gute Wille“ muss jetzt auch tatsächlich konkret Gestalt annehmen können und umgesetzt werden!

Gerade diejenigen von uns, die sich seit Jahren haupt- und ehrenamtlich für Geflüchtete engagieren und einsetzen, wissen auch um den konkreten finanziellen, personellen und zeitlichen Aufwand, den die Unterbringung, Begleitung und Integration von bei uns Schutz suchenden Menschen, auch von staatlicher Seite, erfordert.

Und gerade deshalb halten wir es für unabdingbar, dass nach einigen einzelnen Kommunen jetzt auch der gesamte Landkreis Tübingen dem Bündnis „Sicherer Häfen“ beitritt und selbst wieder größere Aufnahme- und Betreuungskapazitäten für die vorläufige Unterbringung von Geflüchteten bereitstellt.

Hierfür möchten wir schon jetzt bei den Kreisrätinnen und Kreisräten aller demokratischen Fraktionen eindringlich werben: unterstützen Sie im nächsten Frühjahr den in den Kreistag eingebrachten Antrag und machen Sie den gesamten Landkreis Tübingen zu einem sicheren Hafen für aus Seenot gerettete Geflüchtete!